Unter „Wahrheitsraum“ verstehe ich eine Zusammenkunft von 2 oder mehr Menschen in der gemeinsamen Absicht, miteinander möglichst wahrhaftig zu sein.
Ich sehe diesen Raum wie eine Art kollektiven Forschungsraum: Wo wir gemeinsam uns darin üben, wirklich wahrhaftig zu sein und gleichzeitig auch ständig forschen, was uns dies erleichtert und was es eher behindert. So dass wir darin immer besser werden. Und so jeder im besten Fall solche Räume für sich und andere selber erzeugen und so durchgängig wahrhaftig leben kann, wenn er oder sie das will.
Wahrhaftigkeit bedeutet für mich, mit meiner innersten Wahrheit verbunden zu sein und daraus zu leben. Bin ich mit meiner innersten Wahrheit verbunden, dann erlebe ich sie als ein Gefühl der Klarheit, der Stimmigkeit, wie eine Art innere Führung. Es ist dann, als „will etwas aus einem größeren Zusammenhang heraus geschehen“. Oder einfach nur voll da sein.
Ein wesentlicher Teil der Wahrhaftigkeit ist für mich das Fühlen. Und zwar möglichst in seinem vollen Umfang, insbesondere inklusive aller Grundgefühle wie Angst, Trauer, Wut und Freude. Im Fühlen wird ein essentieller Teil des Mensch-Seins lebendig, der Teil nämlich, der mit der Welt, der mit jedem Einzelnen in Beziehung geht und steht. Der Teil, der Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte hat. Der das Eine will und das Andere nicht. Dem nichts wirklich „egal“ ist. Denn Leben bedeutet, Bedürfnisse zu haben, von einander darin abhängig zu sein. Je mehr ich mir das eingestehe und dies auch zeige, umso lebendiger aber auch verletzlicher erlebe ich mich.
Die Entscheidung, sich wahrhaftig zu begegnen, bedeutet also, uns auch in unserem Fühlen wieder zu begegnen. Zwei weitere ganz wesentliche Komponenten sind dabei für mich Scham und Würde:
Die Würde erlaubt es mir, alles, was ist, zu würdigen. Das erlebe ich als eine Art fühlende Akzeptanz dessen, dass es da ist. Ich gehe damit in Beziehung und erlaube es erst einmal da zu sein. Selbst wenn es komplett z.B. meinen Werten, Bedürfnissen oder Glaubenssätzen widerspricht. Dies erfordert gleichzeitig meine Werte, Bedürfnisse und Glaubenssätze als auch das, was nun mal auch existiert, zu akzeptieren. Das wiederum erzeugt und benötigt Gefühle, die auch wiederum gefühlt und gewürdigt sein, also ganz da sein dürfen wollen. Ohne etwas damit tun zu müssen.
Die Scham wiederum erlebe ich als Grenzwächterin für die sozialen Situationen, in denen ich noch nicht mit meinem Gegenüber in Beziehung bin. Sie erlaubt es mir, mit meinen Bedürfnissen vorsichtig in Beziehung zu gehen, um nicht den Anderen bzw. seine Grenzen dabei zu überschreiten. Dieses „in Beziehung gehen“ erfordert dann aber wieder die Würde.
Eine Grundvoraussetzung für den Wahrheitsraum ist also im Wesentlichen die Bereitschaft, mit all diesen Gefühlen zusammen da zu sein und mittels der „Kraft der Gefühle“ miteinander in Beziehung zu gehen: Der Angst, der Trauer, der Wut, der Freude, der Scham und der Würde.
Zusätzlich sind auch weitere Aspekte wichtig bzw. hilfreich wie z.B.:
- Körperwahrnehmung: Um meine Wahrheit und damit auch Gefühle zu unterdrücken braucht es körperliche Anspannung. Daher ist es wichtig auch immer den Körper sehr achtsam wahrzunehmen. Stelle ich fest, dass ich z.B. den Atem kontrolliere oder irgendwo körperlich verspannt bin, dann ist es wichtig, dort genau hin zu fühlen, was von dort aus gefühlt sein will.
- Selbstverantwortung: Für wahrhaftige Begegnung bin ich immer selber verantwortlich. Denn nur ich kann an der Quelle meiner ganzen Wahrhaftigkeit sein. Und nur ich kann sie – und damit mich selbst – letztendlich voll vertreten. Ich bin also zum größten Teil selbst verantwortlich dafür, wie wahrhaftig ein Treffen oder mein Leben letztlich für mich wird.
- Selbstfürsorge: Um meine Wahrhaftigkeit ausreichend wahrnehmen zu können, ist es wichtig, dass ich ausreichend gut fühlen kann. Das bedeutet einerseits, dass es wichtig ist, auch schon vor Treffen mit der Absicht der Wahrhaftigkeit möglichst gut für mich zu sorgen. Andererseits bedeutet das, dass ich innerhalb dieser Räume möglichst offen und ehrlich darüber bin, falls ich gestresst werde und merke, dass ich bald emotional überfordert sein könnte. Und dann frühzeitig ein Warn-Signal gebe bzw. mir Unterstützung erbitte.
- Augenhöhe: In der Wahrhaftigkeit können wir uns nur auf Augenhöhe begegnen. Wenn ich stattdessen Dich „auf einen Sockel stelle“ und damit Deine Wahrheit über meine stelle, verrate ich mich bzw. meine Wahrheit und wir verpassen uns. Ähnlich ist es, wenn ich auf Dich herabschaue und Dich abwerte. Nur dass ich dann andere Teile von mir in Kontakt mit Dir nicht fühlen will.
- Demut: Jeder ist Souverän seiner eigenen Wahrheit. Wenn ich meine, beim Anderen etwas anderes zu fühlen oder wahrzunehmen, als sie oder er selbst, dann ist das immer nur eine Vermutung. Als solche eine Vermutung bzw. eigene Wahrheit kann sie ggf. den anderen unterstützen. Mir hier aber anzumaßen, die Wahrheit des anderen besser zu kennen, als er oder sie selbst, ist grenzüberscheitend. Hier braucht es mehr eigene Bereitschaft, Scham bzw. Demut zu fühlen.
- Keine Spiele spielen: Die übliche Art und Weise Wahrhaftigkeit zu verhindern bzw. zu kompensieren ist es, Rollen bzw. Spiele zu spielen. Das ist wie in einem Theaterstück. Dann spiele ich z.B. den Moralapostel, den Retter, den Therapeuten, das Opfer, den Bösewicht, den Lehrer, den Erwachsenen, den Entertainer, den „echten Mann“, „die reife Frau“ oder vielleicht sogar „den Wahrhaftigen“. Eric Bernes hat schon Mitte des letzten Jahrhunderts Grundprinzipien dieser Spiele in seinem Klassiker „Spiele der Erwachsenen“ sehr schön beschrieben. Die Einladung ist hier, all diese Spiele sein- und stattdessen immer mehr Wahrhaftigkeit zuzulassen.
- Gerne mal den Platz wechseln: Aus der Aufstellungsarbeit wie z.B. aus der Gestalttherapie ist bekannt, wie man durch das Wechseln der Position im Raum in andere innere Anteile wechseln kann. Daher habe ich es als sehr hilfreich erlebt, die Position im Kreis sehr sorgfältig nach innerer Stimmigkeit zu wählen und gerne auch immer wieder anzupassen.
- Stille aushalten: Wenn ich wirklich nur aus der Wahrhaftigkeit reden und agieren will, braucht es insbesondere die Bereitschaft, auch auszuhalten, wenn gerade nichts zu passieren scheint. Das sind die Momente, wo ich selbst oder im besten Falle der ganze Raum auf eine tiefere Bewusstseinsebene wechseln bzw. fallen könnte. Dies ist kein Tun sondern ein Geschehen. Und es kann nur geschehen, wenn ich es auch mit mir geschehen lasse. Das wiederum braucht die Bereitschaft, die dem vorausgehende Angst zu spüren.
Würde Dich das reizen? Dann melde Dich hier gerne bei mir. Ich habe für die Ankündigung bzw. Abstimmung derartiger Räume eine Gruppe im Messengerdienst Telegram erstellt. Ich schicke Dir gerne einen Link, über den Du der Gruppe beitreten kannst, wenn Du mir Deine Telegram-ID oder Mobilnummer schickst.
Aber ich bin auch sehr offen für existierende Räume vor allem in Berlin, in denen etwas Vergleichbares schon praktiziert wird.
Foto (modifziert): Brett Jordan (Quelle)