Du hattest uns gerufen. Die Wohnung wolltest Du gerne gestrichen haben. 12 Jahre, 2 Erwachsene 2 Kinder und eine Katze hatten ihre Spuren an den Wänden hinterlassen. Du warst verzweifelt, weil Du nicht wusstest, wie Du all das in kurzer Zeit hättest schaffen sollen.
Und wir kamen. Wir kamen nicht für Geld. Und wohl auch nicht aus Pflichtgefühl. Ich glaube es war vor allem die Liebe die uns, die mich zu Dir führten. Und der gemeinsame Wunsch, uns damit an einander zu verschenken.
Und dann ging es los: Jeder tat einfach das, was anscheinend gerade getan werden musste. Viel Erfahrung hatten die meisten von uns wohl nicht darin. Vielleicht ein wenig wie Kinder griffen wir uns das Abklebematerial, die Rollen, die Pinsel die Farbe. „Wohnung-Streichen“ hieß unsere Party. Wir liebten und feierten uns darin.
Und dann ein paar Stunden später die Ernüchterung – wir liegen auf der abgedeckten Matratze in der Mitte Deines zukünftigen persönlichen Zimmers und schauen die Wände an:
Wo kam denn plötzlich der weiße Farbfleck jenseits der Grenze her, die wir streichen wollten? Und war das jetzt wirklich nur nasse Farbe, oder war das jetzt einfach fehlende Farbe, an der Wand, die so krass ungleichmäßig gestrichen schien?
Du wolltest es dann doch erst einmal so lassen. So wuschen wir gemeinsam die Farbe wieder von unseren Füßen, von unseren Körpern, von den Geräten. Und wir stellten fest, dass selbst das gemeinsam sehr viel Freude bereiten kann.
Zwischendurch ein Blick auf uns aus der Freiheit eines liebe – und respektvollen Miteinanders auf Augenhöhe: Jede(r) von uns ein kleines Universum an Gefühlen, Wünschen, Liebe und Lebendigkeit. Und alle diese Universen kreisen umeinander, berühren sich und trennen sich wieder. Mit immer wieder derselben Botschaft: „Ich weiß, dass Du da bist und das macht mich glücklich“.
Inzwischen war es schon dunkel geworden. So tauchten plötzlich 3 Kerzen auf und spendeten Licht. Wir trafen uns im Kreis, teilten. Wie viel war da in jedem von uns doch mittlerweile passiert! So viel Schönheit, Berührtheit, Lebendigkeit.
Und dann griffen unsere beiden Barden sich ihre Gitarren. Und wir feierten gemeinsam, teilweise bis zum Sonnenaufgang den Ausklang dieses besonderen Miteinanders.
Am folgenden Tag frage ich Dich, wie die Wände Deines Zimmers jetzt bei Tageslicht aussehen. Es hat sich wohl nicht geändert. Sie unterscheiden sich wohl schon sehr von dem Ideal professionell angemalter, weißer Wände. Und Du sagst, dass Du sie jetzt so lassen willst.
Und ich verstehe warum. In all ihrer vermeintlichen Imperfektion spiegeln sie gleichzeitig auch all die Liebe, Unbekümmertheit und Verspieltheit wieder, die wir beim Streichen empfunden haben. So wie das „Krikel-Krakel“- Männchen auf dem Bild eines 3 Jährigen von manchem Elternteil wie ein Schatz geehrt wird.
Heute höre ich das Vorwort zu Charles Eisensteins Hörbuch „Sacred Economics“. Dort steht, 2 Faktoren würden etwas „Heiliges“ auszeichnen: Einzigartigkeit und Bezogenheit. Und dass wir davon heutzutage viel zu wenig hätten, weil wir alles versuchen würden, insbesondere über Geld, „gleich zu machen“, zu standardisieren.
Und ich erkenne:
Der neue Anstrich Deines Zimmers, den wir zuerst als Makel wahrgenommen hatten, schenkt ihm beides: Er ist definitiv einzigartig. Und er bewahrt gleichzeitig den Bezug zu diesem wunderbaren unbekümmerten und liebevollen Miteinander, in welchem dieser neue Anstrich entstanden war.
So gesehen ist vielleicht sogar ein heiliger Raum entstanden, in welchem Du in Zukunft schlafen wirst. Und in welchem unser gemeinsames Lied Dich weiter tragen und begleiten mag.
Wie schön!